Mittwoch, 26. Dezember 2012

Cat Power – Sun

(Matador Records, 2012)


Ich schreibe der Musik eine Aufgabe zu. 

Musik soll fühlen lassen. Sich erfühlen, nachfühlen und ein Mitfühlen zulassen. Mutig ist der Künstler, der seine eigene Person und Seele in dem Maße zum Gegenstand der Musik macht, dass sie die Gefühle auf einer Ebene transportieren, welche abholt. Die dich versinken lässt, in deine Gedanken, deine Emotionen.

Hast du einen Künstler gefunden, der genau das in dir auslöst, dann wird das Hören einer neuen Veröffentlichung zur Mutprobe. Es soll weder in alten Schubladen gekramt, noch eine nicht nachvollziehbare 180Grad Wendung vollzogen werden.

Ich habe mich 2 Monate nicht an die Veröffentlichung des 9. Studioalbums von Chan Marshall, alias Cat Power, getraut. Zu großartig ist das alte Schaffen der Singer-/Songwriterin, zu sehr wurde Sun von Kritikern als komplette Abkehr aller Gewohnheiten gesehen.

Von bisherigen oftmals souligen und blueslastigen Einflüssen und Vorlieben, wie sie auf The Greatest (2006) letztmalig aus Marshalls eigener Feder oder auf der 2008 erschienenen Coverplatte Jukebox zu vernehmen waren, ist reinweg nichts mehr zu hören. Auch wurde nun der instrumentale Teil merklich heruntergeschraubt: alleingestellte kratzige Gitarrenlastigkeit und zerrissene Pianoklänge in der Begleitung - für die Cat Power der 90er typisch (etwa Moon Pix 1998) - nehmen nur noch einen minimalen Teil der Aufnahmen ein.

Ein Griff in die Schublade von Bekanntem ist das Experimentieren mit Beat wie schon bei You Are Free, sowie eine nur Cat Power eigene Art, Songtexte zu verfassen: So findet man minimalistisch gehaltene Traumsequenzen in sich wiederholenden, hypnotischen Schleifen und teilweise greifbare Sätze, welche in eine undurchsichtige Poesie ausschweifen, wieder.

Cat Power war in vielen Songs die nacktere, kaputtere und reduziertere PJ Harvey. Die zerbrechlich-entrückte Chan Marshall, geprägt von Alkohol, Drogen, Außenseitertum, Selbstmordgedanken- vor allem aber der damit einhergehenden Verletzlichkeit in Gesang und Instrumentierung- ist auf Sun weit weniger präsent. Warum? Dieses Album soll einen Weg heraus aus der Depression, der Verletzlichkeit aufzeigen:

„Moon Pix handelte noch von extremer Isolation und dem Überleben in diesem irren Kampf. […] Sun ist dagegen ein Nicht- Zurücksehnen und Weitermachen. Ein zuversichtlicher Gang in die eigene Zukunft, hin zu persönlicher Kraft und Erfüllung.“ 

Mit diesem Konzept im Hinterkopf lässt sich viel aus dem Album ziehen, welches in vollkommener Selbstbestimmung von Marshall selbst geschrieben, eingespielt, produziert und mit Opfern auch finanziert wurde. Eine ungeheure Bandbreite ergibt sich, welche von tanzbar-elektronisch, über Rap-inspiriert, bis hin zu Latin Loops, wabernden Gitarrensounds und hypnotischen Meditationssequenzen reicht. Die Produktion, gemastert von Philippe Zolar, erscheint sehr nah, einfach und unfertig im Mix. Hier ist die Bass Drum zu präsent über jeglichen anderen Instrumenten, dort verliert sich Marshalls Stimme - doch die DIY-Attitüde ist dadurch gegeben. 

Die ersten Songs weisen einen treibenden, nach vorne gerichteten Beat auf, der poppiger klingt als alles, was bisher von Cat Power geschrieben wurde. Gerade der Opener „Cherokee“ besticht durch großartige Drumbeats, gepaart mit Synthies, einer durchgängigen Klaviermelodie und einem unverkennbaren verschleiert-wabernden Gitarrenriff. Die eigene Stimme wird typischerweise mit Filtern überzogen und im Hintergrund geschichtet. Es ist ein eigenwilliger, aber verdammt hörenswerter Remix des Songs von Nicolas Jaar im Internet verfügbar! 
Auch „Sun“, der Titeltrack des Albums, spricht von Befreiung und Erlösung („We are free, with me, we can finally run“). Eine einfach gehaltene Gitarre, durchgehend gezogene Synthieeinwürfe, basierend auf vornehmlich 2 Akkorden und der beschwörende Gesang lassen dem Groove nichts ab. 

Korruption und Zerstörung auf globaler Ebene werden mit dem Album ebenfalls gehandelt, so will es der Idealismus. Die Leadsingle „Ruin“ stellt mit einer stempelgleich einprägenden Melodie auf eine treibende vorwärtsgerichtete Weise mit Hilfe eines Piano Loops und einer klar erklingenden Gitarre einen popkompatiblen Song dar. Klingt viel, ist es für Cat Power-Verhältnisse auch. Es handelt sich hier um den einzigen Song, bei dem Hilfe mit im Spiel war: Gitarre, Bass und Schlagzeug wurden von externen Musikern eingespielt. 

Doch nicht nur in diesem Song appelliert Chan Marshall an die Menschheit: „Peace and Love“, der würdige Closer des Albums, macht auch dem Ärger über Welt und Politik Luft. Ein launischer Groove und „victory refrains“ in Form von einfachem „Na na na“- Gesang sind entfernt der Punkrockattitüde entlehnt. Der gesamte Song erscheint übersät mit rauer unebener Elektronik und Gitarre, Besonderheit hierbei ist das fast schon Rap-Lastige. Ab etwa der Hälfte des Albums stellt sich eine gediegenere Ruhe ein. „Always On My Own“ erinnert entfernt an eine Meditation, auch „Human Being“ hat eine hypnotische Wirkung, bei der auf eine dahinschweifende Gitarre über Individualität sinniert und auf Rechte gepocht wird („You've got a right to be/ What you want and where you wanna be“). Mit „Manhattan“ wird noch ein seichter Elektropop eingeschoben. Persönliche Highlights auf Cat Power Platten sind definitiv ausufernde Sinnier-Songs. „Nothing But Time“ möchte diesen Moment des schweifenden Nachdenkens geben. Wie der Titel es schon andeutet, werden lebensbejahende „Kopf-Hoch-Jeder-Kann-Ein-Superheld-Sein“-Zeilen über 11 Minuten gezogen. Das ist leider auch das richtige Wort hierfür: gezogen. Die Länge erscheint zäh, dazu trägt auch die Dezimierung auf 2 Akkorde bei. Die Besonderheit des Songs sollen die Back Up Vocals von Iggy Pop darstellen. Iggy wer? Eine vollkommen kitschig anmutende, vibratoübernutzte Stimme mischt sich als gedachter Höhepunkt zum Ende des Songs ein, die dort nichts zu suchen hat. 
Sei sowohl über Mr. Pop als auch über die unheimlich viele Elektronik als meine kleinen Aufreger hinweggesehen, so stellt sich nach mehrmaligem Hören und Verstehen die typische Gediegenheit nach dem Hören eines Cat Power Albums ein. 

Denn Cat Power ist eine Künstlerin, die genau das Mitfühlen ermöglicht, die abholt. Sie ist mutig, macht sie doch ihre Seele zum Gegenstand ihrer Musik. Auch elektronische Grenztests kann ich als Synthie-Muffel ihr nicht verübeln, bleibt sie dahinter doch stets ehrlich. Meine Lieblingsplatte ist es von ihr zwar nicht geworden, aber immerhin eine beachtlich hörenswerte. (Maxi Wüstenberg)












Samstag, 22. Dezember 2012

Exploding Whales – Exploding Whales

(Different Trains, 2012)


Letzte Woche noch habe ich mich darüber gefreut, dass Wolfgang Müller sein neues Album auf seinem eigenen Label veröffentlicht. Doch wenn man ehrlich ist, ist das gar nichts Ungewöhnliches mehr. Portale wie Bandcamp und Facebook machen es kleinen Künstlern und Labels heute viel leichter sich auch mit kleinen Mitteln (den Netzeffekten sei Dank) zu vermarkten.
Auch die Paderborner Band Exploding Whales hat kurzerhand beschlossen, ihr selbstbetiteltes Debüt-Album über ein eigens (zusammen mit dem Elektro-Künstler Adda Schade und den Songwriter David Krützkamp) gegründetes Label zu veröffentlichen.
Dieses Album zeigt eine Band, die sich in dem weiten Feld zwischen Blues, Jazz, Latin, Shanty und Chanson austobt und diese Einflüsse großzügig miteinander vermischt. Und diese Beschreibung ist durchaus bildlich zu nehmen: Die Band klingt so, als wäre sie ständig in Bewegung. Tanzend, schunkelnd, schwankend oder euphorisch springend; immer einen melancholischen Blick auf die Welt und einen Whiskey in der Hand: So fühlt sich die Musik der „Wale“ an.
Der erste Titel auf dem Album heißt Tomcat und beginnt mit der flink gezupften Gitarre und der Stimme von Sänger Matthias:

„When you said that you'd come with me,
Did you mean that you would really come along?
Or just think of me from home until I'm gone?“

Irgendwie lässt sich das sicherlich als Einladung auslegen, den Exploding Whales durch ihre Musik zu folgen und sich von all der Bewegung und Emotion mitreißen zu lassen. Nicht, dass das wirklich zur Debatte stünde: Spätestens wenn die Band zum Ende des Songs richtig loslegt und im Chor ruft: „Abandon, oh abandon all remorse!“, kann man sich nicht mehr halten.
Der nächste Song Scumbag Love hat einmal tief die Kiste mit dem Seemannsgarn gegriffen, bevor er sich auf einer texanischen Ranch zur Ruhe ließ, wo er bis heute seine traurige aber energiegeladene Geschichte erzählt.
Wenn wir nun zwei Stücke überspringen, kommen wir zu der „poppigen Hitsingle“, wie das Stück Italy von Sänger Matthias gerne genannt wird. Die einprägsame Melodie und die die Chanson-artigen Klänge wurden auch schon genutzt, um den Kurzfilm Locomotion zu untermalen.
Direkt im Anschluss kommt dann wohl der stärkste Song des ganzen Albums. Out of Water bedient sich ganz frech an der Melodie von Paul Desmonds Saxophon-Melodie in dem Jazz-Klassiker Take Five, bricht diese dann allerdings auf und verwandelt sich zur tanzbarsten und Ohrwurmgefährlichsten Nummer, die es in dem Genre gibt.
Insgesamt ist das Album äußerst abwechslungsreich und hörenswert. Die einzelnen Songs spielen geschickt mit den verschiedensten Klischees ohne sich jemals darin zu verlieren. Die Stimme von Matthias und die herausragenden instrumentalen Fertigkeiten der Band sorgen für absoluten Hör-Genuss und bisweilen auch für plötzliche Anfälle von akuter Tanzwut.
Abschließend bleibt nur noch der Band und dem jungen Label viel Erfolg zu wünschen, damit es bald mehr von dieser Musik zu hören gibt. (Sören Reimer)

Mittwoch, 12. Dezember 2012

Wolfgang Müller – Über die Unruhe

(Fressmann, 2012)


Crowdfunding ist eine nicht mehr ganz neue, aber nichtsdestotrotz tolle Erfindung.
Toll ist daran nicht nur, dass man ein Album zwei Wochen vor der Veröffentlichung erhalten kann sondern auch, dass ein Künstler wie Wolfgang Müller, der in Hamburg lebt und hauptberuflich irgendwas mit Informatik macht, es schafft sein Album in kompletter Eigenregie zu entwickeln und über ein eigenes und ganz frisch gegründetes Label zu vertreiben.
Ebenso toll ist, dass der Künstler sich in Gestaltungsfragen nicht irgendjemandem gegenüber verantworten muss (sei es nun Sound, Texte, Cover oder irgendetwas anderes). Nicht, dass das bisher im Falle von Wolfgang Müller ein Problem gewesen wäre, aber trotzdem ist das insgesamt doch eine wünschenswerte Tendenz (Ich möchte hier nicht die Authentizitäts-Debatte anstoßen, die Stoßrichtung lautet eher "Gesamtkunstwerk").
Und wo wir schon bei den Texten sind: Wie immer sind diese Werke Herrn Müller ganz hervorragend gelungen. Egal ob er dabei leicht humorig über die alternde Liebe erzählt (wie in „Immer noch Fahrrad“, das schon auf dem vorangegangenen Akustik-Album „Ahoi“ zu hören war), melancholisch über Selbstverwirklichung sinniert („Auf die Füße“) oder sanft Lebensmut in die Ohren des Hörers raunt (wie in dem Titelstück „Über die Unruhe“), all das meistert er ohne zu schwanken stets auf dem schmalen Grat, der zwar gefühlvoll aber nie kitschig ist.
Allerdings kann man nie allgemein sagen, welchen Tonus ein Lied hat; denn in der Regel sind "himmhochjauchzend" und "tottraurigbetrübt" nur einen Absatz weit voneinander entfernt. Aber gerade diese gekonnte Kontrastierung macht einen großen Teil des Reizes der Texte aus.

"Betrachte diesen Handranatenring an meinem Finger,
Als ein Zeichen meiner Angst.
Fein eingraviert. So bist du bloß,
Weil du anders nicht sein kannst.

Jede neue Beule sagt sich,
War ja klar: Druck funktioniert nicht.
Über die Unruhe Nachts kommt man weg,
Mit verkühlten Zähnen und geöffnetem Verdeck.

Du gehörst nicht zu den Leuten,
Die Hinterher "Hab ich doch vorher gewusst" sagen,
Und das ist auch gut so,
Denn sonst kämst du aus dem Plaudern gar nicht raus."

 - Über die Unruhe

Dass das Namensgebende „Über die Unruhe“ insgesamt dann aber doch ein so aufmunterndes Lied ist, passt insofern gut, dass das Album insgesamt häufiger positive Töne anschlägt. Die ermutigenden Lieder überwiegen und sind dem Hörer eine unsichtbare, stützende Hand auf der Schulter (oder ein kleines Lächeln im Mundwinkel).

„Aber alle Leute die
Gute Ratschläge gekauft haben,
Haben sich auch für Zweifel interessiert.
Raus aus dünner Haut.
Alles raus hier.
Wenn die Schiffe havarieren,
Ist das nichts was etwas bedeutet,
Nichts als die Welt die sich neu häutet,
Was von Zeit zu Zeit passiert.
Raus aus dünner Haut.“ 

 - Havarieren

Insgesamt wirkt das Album – für Jemanden der Wolfgang Müller erst mit dem Ahoi-Album kennen gelernt und nur als Solo-Künstler erlebt hat – sehr füllig. Doch zum Glück drängen sich die Mitmusiker nie in den Vordergrund, obwohl sie das sicher könnten. Doch ganz vorne steht immer diese leicht raue, manchmal zerbrechliche Stimme und das großartige Gitarrenspiel von Wolfgang selbst.
Und abschließend noch eine Sache, die wirklich großartig an Crowdfunding ist: Wann kriegt man sonst schon mal die Gelegenheit, dass der eigene Name im Booklet einer CD im selben Atemzug wie Gisbert zu Knyphausen abgedruckt wird? (Sören Reimer)

Donnerstag, 6. Dezember 2012

Godspeed You! Black Emperor – 'Alleluhja! Don't Bend! Ascend!

(Constellation, 2012)


Wer die Großen nicht respektiert, kriegt Ärger. Entweder mit den Großen selbst, oder mit ihren Handlangern. Diese universelle Tatsache gilt nicht nur für Kinder oder das Berufsleben sondern auch für die Musik: Wer sich als musikbegeisterter Mensch durch die Weltgeschichte hört wird immer wieder mit der Tatsache konfrontiert, dass es einige Künstler/Menschen/Musiker gab, die eine Szene/Nische (seltener auch: Die gesamte Musikgeschichte) besonders stark geprägt haben. Zwar hat es in diesem Falle keine Konsequenzen für das körperliche Wohlergehen des Musikliebhabers, dennoch bleiben viele Verweise und Kontexte unklar.
Wenn man sich für Post-Rock interessiert kommt man aus genau dem eben bezeichneten Grund ebenfalls um einige Bands einfach nicht herum. Dazu gehören – in der älteren Generation – sicherlich Tortoise und Slint sowie – aus der neueren Generation – Mogwai und God is an Astronaut. Spätestens seit ihrem im Jahre 2000 erschienenen „Lift Yr. Skinny Fists Like Antennas To Heaven“ schweben allerdings Godspeed You! Black Emperor mit der Erhabenheit eines alten Gottes würdevoll über der gesamten Szene.
Witzigerweise halten Godspeed selbst nicht all zu viel von der Kategorisierung „Post-Rock“ und machen stattdessen einfach weiter alternative Rockmusik mit vielen Crescendi, Streichern und tonnenweise Stimmung. Niemand kann jedoch leugnen, dass die Musik, die die drei Kanadier aus Montreal machen, mit dem, was man heute unter Post-Rock versteht, verdammt viel gemeinsam hat. Es ist viel eher ein Post-Rock-Plus, das mit einer Filigranität und Komplexität gemacht ist wie nur wenige der Genre-Kollegen es – auf dem konstant selben Niveau – bewerkstelligen (auch wenn man fairerweise zugeben muss, dass GY!BE sich zehn Jahre Zeit für die Veröffentlichung des aktuellen Albums ließen).
Um nun aber endlich zum Punkt zu kommen: Godspeed You! Black Emperor haben ein neues Album veröffentlicht. Es hört auf den klangvollen Namen „'Alleluhja! Don't Bend! Ascend!“ und wird wie immer über das Label Constellation-Records released. Und für den geneigten – und eventuell erst spät auf das Genre gestoßenen – Hörer ist das doch eine gute Gelegenheit, mal in das Werk dieser „Großen“ reinzuhören.
Vier Stücke Musik finden sich auf der Scheibe wieder. 53 Minuten Spielzeit bringen diese Schöpfungen auf die Waage und dabei geht diese Spieldauer zum größten Teil gerade mal auf das Konto von zwei Songs: „Mladic“ und „We Drift Like Worried Fire“ knacken gemeinsam schon die 40-Minuten-Marke.
Doch genug der schnöden Zahlen, dahinter steckt mehr: Der Opener des Albums ist das eben erwähnte „Mladic“. Dieses beginnt mit gelayerten Sprachsamples und einer Kette von Geräuschen, die nach Vögeln klingen (ein wenig wie bei dem Song „The Shrine/An Argument“ von den Fleet Foxes). Danach startet sukzessive ein Post-Rock-Opus, das sich aus klassischen Rock-Riffs sowie ethnischen Percussion-Instrumenten speist. Genau wie das nachfolgende Drone-Stück „Their Helicopters' Sing“, ist auch Mladic zunächst ein wenig unfreundlich zu den Ohren des unerfahrenen und blauäugigen Hörers; doch nach und nach können die beiden Stücke mit ihren stark ausgearbeiteten Klang-Texturen überzeugen.
Die zweite Hälfte des Albums bestreiten „We Drift Like Worried Fire“ und „Strung Like Lights at Thee Printemps Erable“ und stellen sich dabei ungleich Hörer-freundlicher dar. Gerade bei dem ersten der beiden Stücke schaffen GY!BE es, dass die zwanzig Minuten wie im Fluge vergehen und nicht mal die Idee an Langweile aufkommt, so schnell vergeht die Zeit, wenn man den Ausarbeitungen des Trios lauscht. Das abschließende „Strung Like Lights...“ lässt den Hörer dann – nach einem aufrüttelnden Brausen – in Frieden wieder seiner Wege ziehen.
Und den hat man sich dann auch verdient. Nicht etwa weil die Platte den Hörer so durchbeutelt, dass er danach entkräftet in den Seilen hängt, sondern vielmehr weil er sich nun mit den „Großen“ beschäftigt hat. 'Alleluhja! Don't Bend! Ascend! kann somit sowohl Ausgangspunkt, Schlüsselpunkt oder vielleicht sogar Endpunkt einer spannenden Entdeckungsreise sein. (Sören Reimer)

Mittwoch, 5. Dezember 2012

Nils Frahm - Screws / Chilly Gonzales - Solo Piano II

        (Erased Tapes, 2012)                                                                  (Indigo, 2012)



Chilly Gonzales: Der große Entertainer, der gerne im Bademantel und mit fettigen Haaren auftritt und schon gefühlt alles gemacht hat, was irgendwie möglich ist.
Nils Frahm: Der neoklassizistische Avantgardist, der sich gerne zurück zieht, seine Musik in der Vordergrund stellt und gerne mit elektronischer Musik experimentiert.

Beide – unterschiedlicher könnten sie kaum sein – haben dieses Jahr ein neues Album veröffentlicht, auf dem sich ausnahmslos Pianostücke befinden: Passenderweise von Gonzales sogar Solo Piano II betitelt, während Frahm seine neun Stücke unter dem Namen Screws herausbrachte. Man kann fast behaupten, dass hiermit auch die einzige Gemeinsamkeit schon herausgestellt wurde, auf beiden finden sich Klavierminiaturen. Ansonsten unterscheiden sich die beiden Alben grundsätzlich voneinander.
Bei Frahm ist vor allem die Entstehungsgeschichte interessant. Er stürzte aus seinem Hochbett, brach sich den linken Daumen, offen war, ob er ihn je wieder zum Klavierspielen gebrauchen können wird. Beirren ließ er sich davon jedoch nicht, sondern setzte sich an sein Klavier, entwickelte mit neun Fingern neun kurze Stücke.
Gonzales hingegen nahm sein Album an zehn Dezembertagen in Paris, als Nachfolger zu seinem vor 8 Jahren erschienenem, bisher erfolgreichsten Album Solo Piano auf, nachdem er im Jahr zuvor noch „Streichmusik mit Ego-Rap“ (zeit.de) in Einklang brachte.

Auf Screws ist jeder Ton, jeder Tastenanschlag wohl überlegt. Man spürt eine unglaubliche Vorsicht auf Grund des gebrochenen Daumens. Länger und länger werdende Pausen sind keine Seltenheit, eher die Regel. Schnelle, dynamische Passagen sind nicht zu finden, laut und pompös wird es erst Recht nicht. Ist es Zufall oder gewollt, dass im Winter dann doch tatsächlich die ruhigsten Alben veröffentlicht werden?
Solo Piano II wurde schon im August veröffentlicht. Passt ein wenig besser, auch wenn Gonzales hier kein Feuerwerk an Virtuosität und Schnelligkeit abbrennt. Braucht er auch gar nicht, dafür sind seine kleinen, selten länger als drei Minuten dauernden Stücke in ihrem gemächlichen Tempo und Erzählweise viel zu gut. Besonderheit ist, dass er immer wieder kleine Extravaganzen einbaut, wie das tolle White Keys, bei dem er – welch' Überraschung – nur weiße Tasten anschlägt und trotzdem mit Leichtigkeit diverse Stimmungen kreieren kann.

Stimmung kreiert auch Frahm. Diese bleibt jedoch über die gesamte Dauer gleich und schwingt sich irgendwo zwischen Vorsicht, Angst und vor allem Intimität ein. Manchmal wähnt man sich schon fast zu nah an Frahms Innerstem dran, was vor allem auch an der spärlichen Produktion liegt, es rauscht und knistert überall, man steht quasi neben ihm.
Produktionstechnisch ist Gonzales da auf einem anderen Level. Nicht schlechter oder besser, sondern viel klarer und sauberer, jedoch keineswegs künstlich. Die Stücke sind eindeutig auf die etwas größere Bühne ausgelegt. Da hört man ihn ein wenig raus, den alten Entertainer in Gonzales, der sich gerne mal Klavierduelle mit Helge Schneider oder Andrew W.K. liefert.

Duelle liefert sich Frahm nicht mit anderen, sondern nur mit sich selbst bzw. seinem Daumen und wirkt dabei immer nah am Zusammenbruch. So scheint er noch nicht mal die Kraft zu haben für Songtitel, die sich auf zwei, höchstens drei Buchstaben beschränken.
Gonzales hingegen strotzt so sehr vor Spielfreude, dass der Eindruck bleibt, dass manche Ideen noch weiter hätten entwickelt und ausformuliert werden können. Das großartige Kenaston beispielsweise hätte ruhig ein wenig länger andauern können.

Chilly Gonzales: Das Enternainment und Klavier-Genie mal wieder mit einem wunderbar schönen Album, der am Piano immer noch am Besten aufgehoben ist.
Nils Frahm: Der Mann mit gebrochenem Daumen und Herzen, lässt tief Blicken und beweist, dass man auch mit neun Fingern persönliche und bewegende Klaviermusik machen kann. (Marius Wurth)

Dienstag, 4. Dezember 2012

Lau - Race The Loser

(Reveal Records, 2012)


Lau. Nein, damit ist selbstverständlich nicht das Landesamt für Umweltschutz gemeint, sondern ein altes orcadisches (schottische Inselgruppe) Wort für natürliches Licht bzw. die Band, die sich nach diesem Begriff benannt hat. Das wären namentlich Kris Drever, Martin Green und Aidan O'Rourke, die mit Race The Loser dieses Jahr ihr drittes Studioalbum veröffentlichten.
Lausige Wortspiele werden hier einige zu finden sein. Ganz und gar nicht lausig ist aber die neue LP, was auch das BBC Radio 2 festgestellt hat: Lau sind für bestes Album und beste Band bei den Folk Awards 2013 nominiert.
Laute Töne werden hier selten angeschlagen. Meistens dominiert O'Rourkes Fiddle, die wunderbar einfache traumhafte, ruhige Melodien von sich gibt, immer unterstützt von Gitarre und Piano oder Akkordeon.
Laub weht stürmisch draußen vor dem Fenster, der Kamin spendet Wärme und Gemütlichkeit, so oder so ähnlich lässt sich das Gefühl beschreiben, das die teilweise überlangen Songs heraufbeschwören. Fast könnte man die Musik als Post-Folk bezeichnen, solche ausufernden Songstruktuen lassen sich hier erahnen und Melodien werden in repetitiver Form immer leicht abgewandelt und nisten sich im Gehörgang ein, dass man sie für Tage nicht mehr los wird. (Far From Portland)
Lauschen wird man neben der prägnanten Fiddle, vor allem der spärlich, aber immer wunderbar eingesetzten Stimme Kris Drevers. Durch die sehr reduzierte Verwendung des Gesangs schenkt man ihm in den Momenten wo er dann plötzlich und unerwartet Auftaucht eine viel höhere Aufmerksamkeit; getreu nach dem Motto „Weniger ist Mehr“.
Lausitz, Laura, Lausanne, Lauch... Laufkundschaft wird wohl eher nicht an diesem Album interessiert sein, aktives Hören ist gefordert, dafür entwickeln sich die Melodien viel zu schnell, Songs ändern immer wieder ihre Entwicklungsrichtung und holen einen nicht unbedingt immer ab.
Lauffeuerartig verbreiten sich jedoch die wunderbar auf Platte gebrachten Ideen der drei Schotten im Kopf und lassen einen begeistert zurück. Und das Landesamt für Umweltschutz dürfte auch nichts dagegen haben. (Marius Wurth)

Montag, 3. Dezember 2012

Selah Sue - Selah Sue

(Because, 2011)



Lauscht man der Musik und insbesondere der Stimme von Sanne Putseys, mit Künstlername Selah Sue, zum ersten Mal, so ergibt sich eventuell der Eindruck von einer starken, lebenserfahrenen Frau, eventuell mit südländischem Blut und einer mächtigen oder zumindest sehr selbstbewussten Erscheinung. Da ist es eine Überraschung, das Cover ihres Debütalbums Selah Sue zu sehen, indem diese Illusion mit einem Mal zerplatzt: Da steht eine zierliche, blonde Frau, kaum älter als 20, um genau zu sein 22, und alles, was an ihr mächtig wirkt, ist eigentlich ihre Frisur – und vielleicht noch der Schmuck, den sie trägt. Alles andere an ihr und dem Booklet ist eher schlicht und in schwarz-weiß gehalten und strahlt eine gewisse Bescheidenheit aus.

Ihre Herkunft und musikalische Entwicklung sind ungewöhnlich. Denn Sanne Putseys stammt aus einem völlig unmusikalischen, belgischen Elternhaus und selbst in ihrem Bekanntenkreis beschäftigte sich niemand derart intensiv mit Musik. Entdeckt wurde sie mit 17 Jahren bei einem Wettbewerb in Belgien von Milow, der sie von da an musikalisch unter seine Fittiche und gleich mit auf Tour nahm, auf der sie im Vorprogramm spielen durfte. Mit ihren beiden EP's Black Part Love von 2008 und Raggamuffin von 2010 hat sie bereits den belgischen und auch französch-sprachigen Raum erobert, was sich unter anderem in einer Auszeichnung als beste Solokünstlerin 2011 der belgischen Music Industry Awards äußerte. Erfahrene Musiker schätzen sie bereits als kompetente Künstlerin und Mit-Musikerin. So trat sie bei Prince 2010 im Vorprogramm auf, hat mit Cee-Lo Green die Single Please aufgenommen, die auf seinem Album The Lady Killer und auf ihrem eigenen Debütalbum erschien. Zudem begleitete sie Patrice im Herbst 2010 auf seiner Tour, die teils im deutschsprachigen Raum ihre Stationen hatte.

Letzterer und DJ Farhot waren es auch, die sich dann schließlich 2011 der Produktion von Selah Sue's erstem Album widmeten, welches sogleich den Platz 1 der belgischen Charts erklomm. Das alles klingt vielversprechend. Und wer daraufhin eine Mischung aus Reggae, HipHop, Funk, Soul und Pop erwartet – bekommt auch genau das. Jeder der 13 Titel des Albums stellt einen neuen Mix verschiedenster Stilmittel stellvertretend für eben genannte Genres dar. So sind aufwändige Bläser-Fills, die teilweise ein wenig an James Bond erinnern, durchschlagende Beats, die traditionelle Raggae-Orgel, ein gekonnter Einsatz von elektronischen Sounds, aber auch Background-Chöre und einfache Akustik-Instrumente Teil des musikalischen Repertoires. Dabei behält sich jeder Song dennoch seinen eigenen musikalischen Schwerpunkt vor und bei Gegenüberstellung einiger Titel des Albums, ist man etwas überrascht, wie wandelbar Selah Sue sich präsentiert und in ihrer Musik selbst verwirklicht. Mit Vorbildern wie Erykah Badu, M.I.A. und Lauryn Hill erscheint dies jedoch um einiges klarer.

Was die musikalische Vielfalt Selah Sue's zusammenhält und den roten Faden darstellt, ist ganz eindeutig ihre Stimme. Ganz gleich, ob bei einer Ballade wie Summertime oder einer kraftvollen Sprechgesang-Einlage wie in Peace Of Mind, immer überzeugt ihre Stimme im Sound. Das schienen Patrice und DJ Farhot gewusst zu haben, denn im Stereo-Panorama des Albums ist Selah Sue's Stimme immer sehr vordergründig und frontal angeordnet. Im Vergleich dazu gerät sie im anders produzierten Duett mit Cee-Lo Green an einigen Stellen fast in den Hintergrund, da die Instrumente vordergründiger gehalten sind und damit teilweise die charakteristischen Facetten ihrer Stimme verdecken.
 
Was den Gesang Selah Sue's vor allem auszeichnet, ist die eng-kehlige Sing-Technik, die ihrer Stimme den rauhen, kratzigen Klang verleiht und eine derartige Energie in sich trägt, dass auch eine kompositorisch eher reduziert gehaltene Ballade wie I Truly Loved Ya nicht langweilig klingt, sondern die Einmaligkeit ihrer Stimme noch in den Fokus rückt. Die Klangfarbe von Selah Sue's Stimme wird oftmals mit der von Duffy oder Amy Winehouse verglichen, doch eine Facette ihres hohen Wiedererkennungswertes ist zusätzlich die – wahrscheinlich vom Raggae inspirierte – Artikulation, die den Songs eine zusätzliche Rhythmik verleiht, bzw. den vorherrschenden Beat unterstützt.

Ein weiterer Aspekt Selah Sue's, der alle ihre Songs zu einem sinnvollen Geflecht miteinander verbindet, sind die Lyrics. Teilweise scheinen ihre Songs noch aus der Teenager-Feder zu stammen, da von Pubertät und unverständlichen, wallenden Emotionen die Rede ist. An anderen Stellen wiederum scheint Selah Sue die Welt, wie jemand der schon viel gesehen hat, durchschaut zu haben. Sie dreht sich jedoch nie um sich und ihre Erkenntnisse, sondern ermutigt in vielen Songs dazu, das Leben nicht so schwer zu nehmen, selbst, wenn es durch eine schwere Vergangenheit geprägt ist. Es sollte immer einen hoffnungsvollen Blick nach vorne geben, und den Willen aufzustehen.

Ein Album mit positiver, trotz allem nicht naiver Message, das in Zeiten von gerne und häufig geübter Gesellschaftskritik zur Abwechslung gut tut.
Es sollte auf jeden Fall noch viel mehr Aufmerksamkeit bekommen ...  (Damaris Penner)