Mittwoch, 5. Dezember 2012

Nils Frahm - Screws / Chilly Gonzales - Solo Piano II

        (Erased Tapes, 2012)                                                                  (Indigo, 2012)



Chilly Gonzales: Der große Entertainer, der gerne im Bademantel und mit fettigen Haaren auftritt und schon gefühlt alles gemacht hat, was irgendwie möglich ist.
Nils Frahm: Der neoklassizistische Avantgardist, der sich gerne zurück zieht, seine Musik in der Vordergrund stellt und gerne mit elektronischer Musik experimentiert.

Beide – unterschiedlicher könnten sie kaum sein – haben dieses Jahr ein neues Album veröffentlicht, auf dem sich ausnahmslos Pianostücke befinden: Passenderweise von Gonzales sogar Solo Piano II betitelt, während Frahm seine neun Stücke unter dem Namen Screws herausbrachte. Man kann fast behaupten, dass hiermit auch die einzige Gemeinsamkeit schon herausgestellt wurde, auf beiden finden sich Klavierminiaturen. Ansonsten unterscheiden sich die beiden Alben grundsätzlich voneinander.
Bei Frahm ist vor allem die Entstehungsgeschichte interessant. Er stürzte aus seinem Hochbett, brach sich den linken Daumen, offen war, ob er ihn je wieder zum Klavierspielen gebrauchen können wird. Beirren ließ er sich davon jedoch nicht, sondern setzte sich an sein Klavier, entwickelte mit neun Fingern neun kurze Stücke.
Gonzales hingegen nahm sein Album an zehn Dezembertagen in Paris, als Nachfolger zu seinem vor 8 Jahren erschienenem, bisher erfolgreichsten Album Solo Piano auf, nachdem er im Jahr zuvor noch „Streichmusik mit Ego-Rap“ (zeit.de) in Einklang brachte.

Auf Screws ist jeder Ton, jeder Tastenanschlag wohl überlegt. Man spürt eine unglaubliche Vorsicht auf Grund des gebrochenen Daumens. Länger und länger werdende Pausen sind keine Seltenheit, eher die Regel. Schnelle, dynamische Passagen sind nicht zu finden, laut und pompös wird es erst Recht nicht. Ist es Zufall oder gewollt, dass im Winter dann doch tatsächlich die ruhigsten Alben veröffentlicht werden?
Solo Piano II wurde schon im August veröffentlicht. Passt ein wenig besser, auch wenn Gonzales hier kein Feuerwerk an Virtuosität und Schnelligkeit abbrennt. Braucht er auch gar nicht, dafür sind seine kleinen, selten länger als drei Minuten dauernden Stücke in ihrem gemächlichen Tempo und Erzählweise viel zu gut. Besonderheit ist, dass er immer wieder kleine Extravaganzen einbaut, wie das tolle White Keys, bei dem er – welch' Überraschung – nur weiße Tasten anschlägt und trotzdem mit Leichtigkeit diverse Stimmungen kreieren kann.

Stimmung kreiert auch Frahm. Diese bleibt jedoch über die gesamte Dauer gleich und schwingt sich irgendwo zwischen Vorsicht, Angst und vor allem Intimität ein. Manchmal wähnt man sich schon fast zu nah an Frahms Innerstem dran, was vor allem auch an der spärlichen Produktion liegt, es rauscht und knistert überall, man steht quasi neben ihm.
Produktionstechnisch ist Gonzales da auf einem anderen Level. Nicht schlechter oder besser, sondern viel klarer und sauberer, jedoch keineswegs künstlich. Die Stücke sind eindeutig auf die etwas größere Bühne ausgelegt. Da hört man ihn ein wenig raus, den alten Entertainer in Gonzales, der sich gerne mal Klavierduelle mit Helge Schneider oder Andrew W.K. liefert.

Duelle liefert sich Frahm nicht mit anderen, sondern nur mit sich selbst bzw. seinem Daumen und wirkt dabei immer nah am Zusammenbruch. So scheint er noch nicht mal die Kraft zu haben für Songtitel, die sich auf zwei, höchstens drei Buchstaben beschränken.
Gonzales hingegen strotzt so sehr vor Spielfreude, dass der Eindruck bleibt, dass manche Ideen noch weiter hätten entwickelt und ausformuliert werden können. Das großartige Kenaston beispielsweise hätte ruhig ein wenig länger andauern können.

Chilly Gonzales: Das Enternainment und Klavier-Genie mal wieder mit einem wunderbar schönen Album, der am Piano immer noch am Besten aufgehoben ist.
Nils Frahm: Der Mann mit gebrochenem Daumen und Herzen, lässt tief Blicken und beweist, dass man auch mit neun Fingern persönliche und bewegende Klaviermusik machen kann. (Marius Wurth)

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