Freitag, 22. Juni 2012

Tortoise – Millions Now Living Will Never Die

(Thrill Jockey Records, 1996)



Über ein Album zu schreiben, das einen so großen Namen hat, ist mit Sicherheit eine undankbare Aufgabe. Im kollektiven Gedächtnis hat es bereits eine feste Stellung erreicht und die wird von einer mickrigen Kritik nicht angekratzt werden können. Doch wozu schreibt man sie dann überhaupt noch? Ist es ein Verneigen vor der – doch eh schon längst anerkannten – Kunst oder ein unnötiges Aufzeigen der eigenen Hör-Bildung? Oder einfach nur ein Erinnern an ein Stück Musik, das man selbst erst kürzlich (wieder) entdeckt hat und im aktuellen Diskurs für relevant hält? Und wo ist da bitte der Unterschied?
Doch zur Sache: „Millions Now Living Will Never Die“ teilt sich quasi nach dem ersten Song. „Djed“ heißt das Stück und dauert gut 21 Minuten. Schicht wird hier auf Schicht gestapelt und mit elektronischen Effekten werden Verzierungen, Zäsuren und Trennungen markiert. Immer wieder schön dabei, wie sehr Tortoise mit den Erwartungen des Hörers spielen und sie dann ungefragt über den Haufen werfen um mit einem überraschenden neuen Thema fortzufahren. Es handelt sich im Wesentlichen um eine Sammlung kürzerer Riffs und Patterns irgendwo zwischen Jazz und Easy Listening, die so verbunden und in Relation zueinander gebracht werden. Diese Musik aus der Früh-Phase des Post-Rock hat mit aktuellen Bands wie Mogwai, Long Distance Calling oder Blueneck (die ich erst kürzlich im Rahmen dieses Blogs rezensiert habe) wenig gemein. Hier wird dem Rock in Post-Rock noch viel stärker aus dem Weg gegangen (zumal der Begriff in der Zeit ohnehin eher ein Hilfeschrei von Simon Reynolds war, als er eine Tortoise-Platte kritisieren sollte). Außerdem zeichnet sich insbesondere der Sound von Tortoise durch den ausgiebigen Einsatz von Mallet-Instrumenten (also Vibraphon, Marimbaphon, Xylophon etc.) und die dadurch entstehende Polyrhythmik aus (man darf sich stellenweise sicherlich zurecht an Stücke wie Steve Reichs „Music for eighteen musicians“ erinnert fühlen). Die zweite Hälfte des Albums besteht aus fünf Stücken, von denen zwei – die auch deutlich kürzer sind – quasi als Verbindungen dienen. Diese Stücke sind – und das nicht nur Aufgrund ihrer Kürze – etwas griffiger als das kolossale Hauptstück. Zwar mag das Bass-Solo-Stück „A Survey“ zu Beginn etwas nervig anmuten (obwohl es eigentlich genau das tut, was Post-Rock ausmacht: ein Riff in hypnotischer Länge wiederholen), allerdings fällt auch hier bei mehrfachem Hören die geschickte Themenvorstellung aus dem anschließenden „The Taut and Tame“ auf. Insgesamt können die kürzeren Stücke, die von ihren Riffs her fast poppig wirken, aufgrund ihrer – in der Kürze liegt die Würze – Memorabilität sogar noch mehr überzeugen als „Djed“.
Zurück auf Null: Warum also der Hype um diese Platte? Begeisterung über das kunstvolle Arrangement des ersten Titels? Oder eher über die griffigen Stücke des zweiten Teils? Wohl ein bisschen von Beidem, vermute ich. Vor allem jedoch zeigt sich beim Hören dieser Stil auf, der viel geprägt hat und doch seines Gleichen sucht. Um also auf die Ausgangsfrage zurück zu kommen handelt es sich wohl vor allem um ein Erinnern oder – im Sinne der Postmodernen Theorie – um eine Neu-Kontextualisierung dieser Aufnahme. Denn zwar konnten Tortoise damals nicht ahnen – und ich unterstelle ihnen, dass es auch nie ihre Absicht war – wie viele Musiker sie begeistern und beeinflussen würden, wir aber sind heute in der Lage die verschiedenen Bands in eine Reihe zu stellen und Quer-Verbindungen zu finden oder zu konstruieren. Und das klingt jetzt wissenschaftlicher als es gemeint ist. (Sören Reimer)

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen